GedichtGedichte

Das Gedicht „Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren“ stammt aus der Feder von Novalis.

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
sind Schlüssel aller Kreaturen
wenn die, so singen oder küssen,
mehr als die Tiefgelehrten wissen,
wenn sich die Welt ins freie Leben
und in die Welt wird zurückbegeben,

wenn dann sich wieder Licht und Schatten
zu echter Klarheit werden gatten
und man in Märchen und Gedichten
erkennt die wahren Weltgeschichten,
dann fliegt von einem geheimen Wort
das ganze verkehrte Wesen fort.

Analyse

Das Gedicht "Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren" (1800; Epoche der Romantik) besteht aus 1er Strophe mit 12 Versen. Das Metrum (Versmaß) ist ein jambischer Vierheber. Als Reimschema wird in je 2 aufeinander folgenden Versen ein Paarreim [aa bb cc …] verwendet. Bis auf die letzten beiden Verse, enden die Verse mit einer weibliche Kadenz. Das ganze Gedicht besteht aus einem einzigen konditionalen Satz.

Inhalt / Zusammenfassung

Zunächst kritisiert der Autor den Anspruch der Naturwissenschaften, die einzig Mögliche Erkenntnis der Welt zu liefern und die dabei verwendeten rational-quantitativen Methoden. Den "Tiefgelehrten" werden die sinnlich orientierten "Romantiker" gegenübergestellt, deren Zugang zum Verständnis der Welt (z.B. über Märchen und Gedichte & "dem geheimen Wort") echte "Klarheit" ermöglicht (siehe auch: Hörst du wie die Brunnen rauschen von Clemens Brentano).

In den letzten beiden Versen wird das Motiv des "geheimen Wortes" aufgegriffen - d.h. dem Wort des romantischen Dichters (vgl. Eichendorffs vierzeiliges Gedicht „Wünschelrute“). Das Motiv des geheimen, nur einem eingeweihten Kreis bekannten Wortes ist der Konzeption von Friedrich Hölderlin und den späteren Haltungen des Kreises um Stefan George verwandt (siehe: Wer je die Flamme umschritt).

Hintergrund

Im Romanfragment "Heinrich von Ofterdingen" von Novalis (eigentlich Friedrich von Hardenberg) erschien dieses Gedicht, das als programmatisch für die Romantik gilt. Der Roman entstand im Laufe des Jahres 1800 und wurde erst 1802 postum von Friedrich Schlegel veröffentlicht. Novalis misstraut den „Tiefgelehrten“ (bzw. der Aufklärung) und findet den Schlüssel zum Verständnis der Welt bei den Sängern und den Liebenden.

Novalis, zu dessen Lieblingsideen das künftige Goldene Zeitalter gehörte, wünschte keine Rückkehr zu einem statischen Idealzustand im Sinne des antiken Mythos. Er erwartete neuartige Verhältnisse, die durch eine nicht endende Dynamik gekennzeichnet sein sollten: einer fortdauernden Annäherung an die Vollkommenheit in der künftigen goldenen Zeit.

Ein zentrales Merkmal des antiken und des künftigen "Goldenen Zeitalters" ist für Novalis die Einheit der Natur und die Einbettung des Menschen in diese Einheit. Im Prozess des Zueinanderfindens von Mensch und Natur weist er den Dichtern eine wichtige Rolle zu, da sie befähigt seien, das dabei Wesentliche zu erfühlen und zu artikulieren.

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