Das Gedicht „Sonett 20“ stammt aus der Feder von William Shakespeare.
Dir schuf Natur ein Frauenangesicht
Mit eigner Hand, Herr-Herrin meiner Seele,
Ein holdes Frauenherz, doch gab sie nicht
Den flücht'gen Sinn dir, der des Weibes Fehle.
Dein Auge strahlt wie ihr's, doch treu und echter,
Vergoldend jedes Ding, das sich ihm zeigt;
Ein Mann bist du, die Krone der Geschlechter,
Dem Mannesblick und Frauenherz sich neigt.
Zu einem Weib warst du zuerst bestimmt,
Bis schaffende Natur, in dich verliebt,
Dir das verlieh, was all mein Glück mir nimmt,
Die Gabe, die mir keinen Vorteil gibt.
Da sie dich formte für der Frauen Minne,
Weih mir dein Herz und ihnen deine Sinne.
Übersetzt von Max Joseph Wolff
Von eignen Händen der Natur geschminkt,
Ein Fraungesicht hast du Mann-Mädchen meiner Liebe!
Ein mildes Frauenherz, doch unbedingt
Durch falscher Frauen wechselvolle Triebe:
Ein Auge heller, minder falsch im Rollen,
Vergoldend wie es blickt. Von Farb' ein Mann,
Dem Huldigung der andern Farben zollen;
Der Männeraugen Dieb, der Frauenseelen Bann.
Auch warest du zum Weib geboren, machte
Natur nicht, in der Arbeit liebeblind,
Den Zusatz, der mein Hoffen um dich brachte,
Dir Gaben leihend, die mir nutzlos sind.
Doch da sie Frauengunst mit dir gesucht,
Gib deine Liebe mir, gib ihnen Liebesfrucht.
Übersetzt von Gottlob Regis
Ein Fraungesicht hat dir Natur geschenkt,
du Herr zugleich und Herrin meiner Seele;
ein Frauenherz, das doch nicht treulos denkt,
wie es dem Wechsel stets nur sich vermähle;
ein lockend Aug und dennoch nicht belügend,
verklärend jedes Ding, das es bestrahlt,
und über beiden Wesens Reiz verfügend,
ein Doppelbild, von der Natur gemalt.
Als sie zum Weib dich schuf und selbst entbrannte
für dich, ergänzte sie dich gleich zum Mann:
was meiner Hoffnung den Besitz entwandte
durch Überfluß, den ich nicht brauchen kann.
So ausgestattet, Frauen zu erlaben –
laß mir die Liebe, wenn die Lust sie haben!
Übersetzt von Karl Kraus
Anmerkung: Shakespeares Sonette sind hauptsächlich in einem jambischen Pentameter genannten Metrum geschrieben, einem Reimschema, bei dem jede Sonettzeile aus 10 Silben besteht. Die Silben sind in fünf Paare unterteilt, die Jamben genannt werden, wobei jedes Paar mit einer unbetonten Silbe beginnt.
Der junge Mann hat die Schönheit einer Frau und die Gestalt eines Mannes. Shakespeare preist die weiblichen Tugenden dieses Mannes an. Er besitzt alle positiven Eigenschaften einer Frau, ohne ihre negativen Züge. Der Erzähler scheint zu glauben, dass der junge Mann so schön wie eine Frau ist, aber darüber hinaus treuer und weniger wankelmütig. Der Dichter beklagt, dass die Natur „etwas hinzugefügt“ hat - den Penis -, was bedeutet, dass die, die er liebt, keine Frau ist und nun für ihn unerreichbar bleibt.
Letzteres könnte auch ein Hinweis auf Platons Dialog Charmides sein, in dem Sokrates mit seinen Freunden über die Schönheit eines nackten Jünglings diskutiert. Der „Zusatz“ könnte in diesem Fall die Seele sein, der wertvollste Teil des Menschen.
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