GedichtGedichte

Das Gedicht „Erinnerung an die Marie A.“ stammt aus der Feder von Bertolt Brecht.

An jenem Tag im blauen Mond September
Still unter einem jungen Pflaumenbaum
Da hielt ich sie, die stille bleiche Liebe
In meinem Arm wie einen golden Traum.
Und über uns im schönen Sommerhimmel
War eine Wolke, die ich lange sah
Sie war sehr weiß und ungeheuer oben
Und als ich aufsah, war sie nimmer da.

Seit jenem Tag sind viele, viele Monde
Geschwommen still hinunter und vorbei.
Die Pflaumenbäume sind wohl abgehauen
Und fragst Du mich, was mit der Liebe sei?
So sag ich dir: Ich kann mich nicht erinnern
Und doch, gewiss, ich weiß schon, was du meinst.
Doch ihr Gesicht, das weiß ich wirklich nimmer
Ich weiß nur mehr: ich küsste es dereinst.

Und auch der Kuss, ich hätt ihn längst vergessen
Wenn nicht die Wolke dagewesen wär
Die weiß ich noch und wird ich immer wissen
Sie war sehr weiß und kam von oben her.
Die Pflaumenbäme blühn vielleicht noch immer
Und jene Frau hat jetzt vielleicht das siebte Kind
Doch jene Wolke blühte nur Minuten
Und als ich aufsah, schwand sie schon im Wind.

Analyse

Das Gedicht "Erinnerung an die Marie A." (1924 ; Epoche der Neuen Sachlichkeit) besteht aus 3 Strophen mit je 8 Versen. Das Reimschema ist schwach entwickelt: lediglich der zweite und der vierte, sowie der sechste und der achte Vers jeder Strophe reimen sich. Das Metrum ist ein fünfhebiger Jambus.

Inhalt

Das Gedicht thematisiert die Erinnerung an eine vergangene Liebe, die Brecht in das berühmte Bild von der vergehenden "weißen Wolke" fasste. Das Namenskürzel „Marie A.“ im Titel bezieht sich auf Brechts Augsburger Jugendliebe Marie Rose Amann.

Die erste Strophe schildert ein Liebeserlebnis in der Natur, die Begegnung mit einer „stillen bleichen Liebe“. Eine Wolke am Sommerhimmel, „sehr weiß und ungeheuer oben“, die schließlich verschwindet, macht das Erlebte unvergesslich.
In der zweiten Strophe setzt sich der das lyrische Ich aus zeitlicher Distanz mit seinen Erinnerungen an das Liebeserlebnis auseinander.
In der dritten Strophe koppelt der Sprecher sein Erinnerungsvermögen an das unvergessliche Bild der weißen Wolke.

Hintergrund

Das Manuskript des Gedichts findet sich in Bertolt Brechts Notizbuch aus dem Jahre 1920, überschrieben als "Sentimentales Lied Nr. 1004". Es handelt sich um eines meiner 10 Lieblingsgedichte!

Die Schülerin Maria Rosa Amann (1901–1988), in der Literatur häufig geschrieben „Marie Rose Aman“, die Brecht im Frühsommer 1916 in einer Eisdiele kennenlernte, soll die Realfigur hinter der geheimnisvollen Marie A. gewesen sein.

Anregungen für das Gedicht gab auch ein französischer Chanson, der im deutschen Sprachraum in einer Bearbeitung des Wiener Komponisten Leopold Sprowacker um die Jahrhundertwende große Popularität genoss. Die erste Strophe der deutschen Fassung des Schlagers lautet:

So oft der Frühling durch das offne Fenster
Am Sonntagmorgen uns hat angelacht
Da zogen wir durch Hain und grüne Felder.
Sag, Liebchen, hat dein Herz daran gedacht?
Wenn abends wir die Schritte heimwärts lenkten,
Dein Händchen ruht in meinem Arm,
So oft der Weiden Rauschen dich erschreckte,
Da hielt ich dich so fest, so innig warm.
Zu jener Zeit, wie liebt ich dich, mein Leben,
Ich hätt geküsst die Spur von Deinem Tritt,
Hätt gerne alles für Dich hingegeben
Und dennoch du – du hast mich nie geliebt!

Symbole

Wolke

Das Motiv der "Wolke" ist eine zentrales Thema der frühen Lyrik von Brecht. Es taucht bereits in dem 1918 verfassten Drama "Baal" auf:

Baal: Es ist auch Frühjahr. Es muss etwas Weißes in diese verfluchte Höhle!
Eine Wolke!
[…]
Baal: Aber erst hole ich mir eine Frau. Allein ausziehen, das ist traurig. Irgend eine! Mit einem Gesicht wie eine Frau!
Baal: Wenn du sie beschlafen hast, ist sie vielleicht ein Haufen Fleisch, das kein Gesicht mehr hat.

Pflaumenbaum

Das Symbol des Pflaumenbaums taucht ebenfalls im "Baal" auf und später mit deutlichen erotischen Anspielungen im "Pflaumenlied" aus dem Theaterstück "Herr Puntila und sein Knecht Matti" (1941).

Als wir warn beim Pflaumenpflücken
legte er sich in das Gras
Blond sein Bart, und auf dem Rücken
Sah er zu, sah die und das.

Bertolt Brecht

Bertolt Brecht (auch Bert Brecht; 1898 - 1956) war ein einflussreicher deutscher Dramatiker, Librettist und Lyriker des 20. Jahrhunderts. Er hat das epische Theater beziehungsweise „dialektische Theater“ begründet und umgesetzt. Zu seinen bekanntesten Stücken zählen "Die Dreigroschenoper", "Mutter Courage und ihre Kinder", "Das Leben des Galilei" sowie das kapitalismus-kritische Werk "Die heilige Johanna der Schlachthöfe".

Weitere berühmte Gedichte von Bertolt Brecht: