GedichtGedichte

Wie man ein Gedicht analysiert — eine 10 Punkte Anleitung für Laien.

  1. Lesen Sie das Gedicht mindestens zweimal. Sie werden ein Gedicht mehrmals lesen müssen, bevor Sie überhaupt versuchen, es auf tiefere Bedeutungen hin zu untersuchen. Geben Sie sich selbst die Chance, das Gedicht gründlich und vollständig zu erleben.
  2. Gibt es einen Titel? Vergessen Sie nicht, dies zu berücksichtigen. Leser überlesen oft den Titel eines Gedichts, der wichtige Hinweise für das Verständnis des Stücks enthalten kann. Oft ist der Titel eine Einleitung, die Ihnen den Weg weisen kann; zum Beispiel der Titel „Der Knabe im Moor“ lässt Sie sofort wissen, was das Thema ist.
  3. Bleiben Sie ruhig! Bei unbekannten Wörtern oder sogar einigen Fremdwörtern sollten Sie nicht in Panik geraten und sich nicht verrückt machen lassen. Lassen Sie sie beim ersten Durchlesen einfach beiseite und versuchen Sie stattdessen, sich auf den tieferen Sinn des Gedichts zu konzentrieren. Beim zweiten und jedem weiteren Durchgang sollten Sie dann die problematischen Wörter oder alles andere, was für Sie problematisch ist, nachschlagen.
  4. Lesen Sie sich den Text laut vor. Ja. Sie müssen das tun. Gedichte sind dazu da, gehört zu werden. Oft werden Sie feststellen, dass Stellen im Gedicht, die Ihnen auf der Seite Schwierigkeiten bereitet haben, beim lauten Lesen plötzlich einen Sinn ergeben. Vielleicht kommen Sie sich anfangs albern vor, aber bald werden Sie sich wohlfühlen (Katzen und Hunde sind übrigens besonders gute Zuhörer... obwohl Katzen eher kritisch sind und an einem entscheidenden Punkt Ihres Vortrags gehen könnten).
    Lesen Sie mit Ihrer normalen Stimme. Versuchen Sie nicht, wie Darth Vader oder Keira Knightley zu klingen ;-).
  5. Achten Sie auf die Zeichensetzung. Die meisten Gedichte verwenden Interpunktion, um die Stimme des Lesers zu lenken. Sie müssen darauf achten, denn das Ende einer Zeile ist häufig nicht das Ende eines Satzes. Betrachten Sie die ersten 4 Zeilen dem Gedicht "Der Panther" von Rilke:

    Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
    so müd geworden, daß er nichts mehr hält.
    Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
    und hinter tausend Stäben keine Welt.

    Wenn Sie am Ende der ersten Zeile aufhören zu lesen oder eine Pause einlegen, klingt es unterbrochen und unnatürlich. Wenn Sie den Text flüssig durchlesen, und beim Punkt einen Punkt machen, hat das Gedicht den richtigen "Plauderton" (bei einem Komma kurz innehalten).
  6. Versuchen Sie einzelne Verse zu paraphrasieren. Am besten schreiben Sie in Ihren eigenen Worten auf, was der Dichter in jeder Zeile (oder Vers) des Gedichtes sagt. Wenn Sie es durcharbeiten, werden Sie sehen, auf welche Bereiche Sie sich konzentrieren müssen. Aber auch hier gilt: Vermeiden Sie die Vorstellung, dass es „die eine wahre Bedeutung“ gibt.
  7. Wer ist der Sprecher? Denken Sie daran, den Dichter nicht mit dem „Sprecher“ des Gedichts zu verwechseln. In den meisten Fällen ist der Sprecher eine Figur (auch Lyrisches Ich genannt), genau wie in einem Roman oder einem Theaterstück. Wenn du herausfindest, wer der Sprecher ist, fällt es dir leichter, dich dem Werk zu nähern.
  8. Seien Sie offen für "Interpretationen" oder besser die Wirkung. Geben Sie der Sache eine Chance. Manche Gedichte wirken kryptisch, verwirrend oder unverständlich. Aber wenn man sich auf die Absichten des Dichters einlässt, kann man auf interessante Ideen und Fragen stoßen (zum Beispiel: Was ist wichtig im Leben?).
  9. Es gibt keine überflüssigen Wörter. Dichter wählen jedes einzelne Wort sorgfältig aus. Keines sollte weggelassen werden. Bilder und Symbole haben alle einen Zweck für die Gesamtbedeutung des Gedichtes.
  10. Erwarten Sie keine endgültige Lesart. Viele Gedichte sind absichtlich offen gehalten und weigern sich, ihre inneren Spannungen aufzulösen. Es ist zwar wünschenswert zu verstehen, was ein Gedicht aussagt, aber denken Sie daran, dass es auch andere Ansätze und Interpretationen als Ihre eigene gibt.

Gliederung

Der Aufbau einer Gedichtanalyse folgt meistens dem klassischen Aufsatz: Einleitung, Hauptteil und Schluss.

  1. Einleitung: Autor, Titel, Ersscheinungsjahr, Textart, Thema
  2. Hauptteil:
    1. Inhalt (Titel, inhaltlicher Aufbau, lyrisches Ich)
    2. Form (Verse und Strophen, Reimschema, Versmaß, Kadenzen)
    3. Sprache (Zeitform, sprachliche Mittel und Satzbau, evtl. spezielle Eigenarten)
  3. Schluss: kurze Zusammenfassung, evtl. eigenes Fazit

Analyse

Analyse ist der Prozess der Zerlegung eines komplexen Themas oder Stoffes in kleinere Teile, um ein besseres Verständnis davon zu erlangen. Diese Technik wurde bereits vor Aristoteles (384-322 v. Chr.) in der Mathematik und Logik angewandt, obwohl die Analyse als formales Konzept eine relativ junge Entwicklung ist.

Das Wort stammt aus dem Altgriechischen "análysis" (Analyse, „ein Aufbrechen“ oder „ein Lösen“; von ana- „auf, durch“ und lysis „ein Lösen“). Daher stammt auch der Plural des Wortes: Analysen.

Als formales Konzept wird die Methode auf verschiedene Weise Alhazen, René Descartes (Diskurs über die Methode) und Galileo Galilei zugeschrieben. Sie wurde auch Isaac Newton zugeschrieben, und zwar in Form einer praktischen Methode der physikalischen Entdeckung (die er nicht benannt hat).

Das Gegenstück zur Analyse ist die Synthese: das Zusammensetzen der Teile zu einem neuen oder anderen Ganzen.

Literatur

Die literarische Formanalyse ist eine Methode, die ihre Wurzeln in der akademischen Bewegung des New Criticism hat. Sie betrachtet Texte - vor allem kurze Gedichte wie Sonette, die sich aufgrund ihres geringen Umfangs und ihrer großen Komplexität gut für diese Art der Analyse eignen - als Diskurseinheiten, die in sich selbst und ohne Bezug auf biografische oder historische Rahmenbedingungen verstanden werden können.

Bei dieser Analysemethode wird der Text sprachlich durch eine Untersuchung der Prosodie (die formale Analyse des Metrums) und der phonischen Effekte wie Alliterationen und Reime sowie kognitiv durch eine Untersuchung des Zusammenspiels der syntaktischen Strukturen, der figurativen Sprache und anderer Elemente des Gedichts, die für seine größere Wirkung sorgen, aufgeschlüsselt.