GedichtGedichte

Das Gedicht „Gesang der Geister über den Wassern“ stammt aus der Feder von Johann Wolfgang von Goethe.

Finale Fassung

Des Menschen Seele
Gleicht dem Wasser:
Vom Himmel kommt es,
Zum Himmel steigt es,
Und wieder nieder
Zur Erde muß es,
Ewig wechselnd.

Strömt von der hohen,
Steilen Felswand
Der reine Strahl,
Dann stäubt er lieblich
In Wolkenwellen
Zum glatten Fels,
Und leicht empfangen
Wallt er verschleiernd,
Leisrauschend
Zur Tiefe nieder.

Ragen Klippen
Dem Sturz entgegen,
Schäumt er unmutig
Stufenweise
Zum Abgrund.

Im flachen Bette
Schleicht er das Wiesental hin,
Und in dem glatten See
Weiden ihr Antlitz
Alle Gestirne.

Wind ist der Welle
Lieblicher Buhler;
Wind mischt vom Grund aus
Schäumende Wogen.

Seele des Menschen,
Wie gleichst du dem Wasser!
Schicksal des Menschen,
Wie gleichst du dem Wind!

Siehe auch das Gedicht Die Geister am Mummelsee von Eduard Mörike.

Erste Handschrift

Nachstehend ist die Fassung der Handschriften, mit der Verteilung des Textes auf zwei Sprecher bzw. Sänger (singende Geister), abgedruckt.

      1. [Geist]
Des Menschen Seele
Gleicht dem Wasser
Vom Himmel kommt es
Zum Himmel steigt es

      2. [Geist]
Und wieder nieder
Zur Erde muß es
Ewigwechselnd.

      1. [Geist]
Strömt von der hohen
Steilen Felswand
Der reine Strahl
Stäubt er lieblich
Zu Wolken-Wellen
Zum glatten Fels
Und leicht empfangen
Wallt er schleirend
Leisrauschend
Zur Tiefe nieder

      2. [Geist]
Ragen Klippen
Dem Sturz entgegen
Schäumt er unmutig
Stufenweise
Zum Abgrund.

      1. [Geist]
Im flachen Bette
Schleicht er das Wiestal hin.

      2. [Geist]
Und im glatten See
Weiden ihr Antlitz
Alle Gestirne

      1. [Geist]
Wind ist der Welle
lieblicher Buhler

      2. [Geist]
Wind mischt von Grund aus
Alle die Wogen

      1. [Geist]
Seele des Menschen
Wie gleichst du dem Wasser

      2. [Geist]
Schicksal des Menschen
Wie gleichst du dem Wind.

Inhalt / Zusammenfassung

„Gesang der Geister“ wurde mit „Mahomets Gesang“ verglichen, einem Gedicht von Goethe aus den Jahren 1772–73, das den Verlauf eines idealisierten Flusses von einer Bergquelle bis zum Meer beschreibt.

Beide Gedichte sind Beispiele für die Sturm-und-Drang-Bewegung, eine deutsche frühromantische ästhetische Bewegung, die den Schwerpunkt auf subjektive Erfahrungen legt.
„Gesang der Geister“ wird manchmal als eine erweiterte romantische Metapher interpretiert, in der das wiederholte Auf- und Absteigen des Wassers zwischen Himmel und Erde den Versuch des Menschen darstellt, sowohl das Weltliche als auch das Ewige zu erfassen, und der Kontrast zwischen der unruhigen Kaskade und dem ruhigen See zwischen stürmischen Leidenschaften und ruhiger Reflexion besteht, in einer Art Mystik oder Pantheismus, in dem diese Gegensätze zu einem natürlichen Ganzen verschmelzen.

Hintergrund

Goethe lebte seit 1776 in Weimar. Im Jahr 1779 unternahm er seine zweite Reise in die Schweiz, diesmal in Begleitung seines Arbeitgebers Herzog Karl August (1757–1828). Vom 9. bis 11. Oktober besuchte die Gruppe die Gegend um Lauterbrunnen im Berner Oberland. Goethe war beeindruckt vom Anblick der Staubbachfälle, die sich über eine 300 m hohe Felswand ergießen. Er wurde dazu inspiriert, eine erste Version dieses Gedichts mit dem Titel „Gesang der lieblichen Geister in der Wüste” zu schreiben.

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